Die Suche nach der eigenen Identität
– die Welt der Stille mit der Welt des Klangs verbinden
Von Barbara Adamus, Diakonin der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, Vorstandsmitglied von IVSS Churchear
Menschen mit Hörproblemen sind unter uns. Sie bilden eine eigene Welt, zu der die Hörende nicht immer Zugang finden, selbst wenn sie es wollen. Sie sind unsere Schwestern und Brüder in Christus und wollen auch als solche behandelt werden. Kann die Kunst der Unterstützung und Kommunikation untereinander dienen?
Die Zahl der Menschen mit Hörproblemen nimmt rapide zu. Menschen mit Hörbehinderung, Taubheit, Taubblindheit… Nicht jeder ist sich darüber bewusst, dass es sich dabei um die zahlreichste und gleichzeitig am meisten übersehene Behindertengruppe handelt. Sogar innerhalb der Familie wird eine Person mit eine Hörbehinderung oft übersehen und ihr Bedürfnis, am Leben ihrer Angehörigen teilzunehmen, wird übersehen.
IVSS Churchear, der Internationale Verband für Schwerhörigenseelsorge, hat sich zum Ziel gesetzt, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass Menschen mit einer Hörbehinderung am normalen gesellschaftlichen Leben, einschließlich des Kirchengemeindelebens, teilhaben wollen, dass sie das Evangelium hören wollen und nicht als Behinderte, sondern als vollwertige Gemeindeglieder, Schwestern und Brüder in Jesus behandelt werden wollen! Es scheint bereits die Norm zu sein, dass öffentliche Gebäude für mobilitätseingeschränkte Menschen zugänglich sein müssen. Was jedoch oft vergessen wird – auch von Kirchen! –, ist die Zugänglichkeit für Menschen mit Hörproblemen.
Vom 7. bis 10. Juni 2024 fand das letzte Treffen der Arbeitsgruppe des europäischen Erasmus+-Projekts statt. Unser Arbeitstreffen begann mit der eintägigen Fünften Internationalen Konferenz der Schlesischen Universität in Katowice in der Außenstelle Cieszyn mit dem Thema: Kunst, Kreativität und Kreativität im Leben von Menschen mit Hörbehinderung. Auf dieser Konferenz wurde die Bedeutung der Kunst, ihrer Wahrnehmung und ihres Schaffens als eine Form der Therapie, Unterstützung und Rehabilitation sowie als ein gutes Werkzeug für die Kommunikation zwischen der Welt der Hörgeschädigten und der hörenden Welt hervorgehoben.
Gehörlose Künstler schaffen heute besondere Kunst
Gehörlose Künstler schaffen heute besondere Kunst. Das Thema ihrer Werke ist das Unverständnis der Hörenden, die Entfremdung, die Suche nach der eigenen Identität – z.B. eine Gemälde in kräftigen Primärfarben, deren häufiges Motiv die großen Hände sind, da sie in der Kommunikation – der Gebärdensprache – verwendet werden. Ein bekannter Vertreter dieser Richtung in Deutschland war der verstorbene Albert Fischer. Die bekannteste Vertreterin ist jedoch die Amerikanerin Nancy Rourke, eine Vorreiterin der Deaf Art, die sich in ihren Werken mit der Diskriminierung von Gehörlosen auseinandersetzt. Ihr bekanntestes Gemälde ist Koda (Kids of Deaf Adults) – ein hörendes Kind, das auf seine gehörlosen, gebärdenden Eltern wartet.
Eine weitere bekannte Vertreterin der Bewegung ist Susan Dupor, ebenfalls Amerikanerin. Ihr Gemälde Familienhund zeigt ein gehörloses Mädchen, das auf dem Boden liegt und eine Familie reden hört – die verschwommenen Gesichter deuten darauf hin, dass das Kind kein Sprachverständnis hat.
Gehen wir zurück in unsere (d.h. polnische – Anm. des Übersetzers) Geschichte. Am Hof von König Stanislaw August wurden gehörlose Künstler im Atelier seines Hofmalers Marcello Bacciarelli beschäftigt. Im Jahr 1817 wurde in Krakau ein Institut für Gehörlose gegründet. Hier konnten gehörlose Kinder in ihrer eigenen Umgebung ihre künstlerischen Fähigkeiten entwickeln. Ein römisch-katholischer Priester kümmerte sich um Kinder mit besonderer künstlerischer Begabung und schickte sie an die Akademie der Schönen Künste. Gegenwärtig gibt es in unserem Land eine Gruppe von etwa 40 angeschlossenen gehörlosen Künstlern. Aus den Reden der Referenten und aus den Werken der Kinder und erwachsenen Künstler konnte man ersehen, dass die Kultur von Menschen mit Hörproblemen einfach eine andere Qualität ist. Sie kann nicht mit einer Behinderung oder Krankheit in Verbindung gebracht werden.
Gebärdete Poesie und Film
Arkadiusz Bazak, Schauspieler, Regisseur, Musiker und Kameramann, präsentierte auf der Konferenz Gebärdenpoesie. „Jede Sprache hat ihre eigene Art, Schönheit auszudrücken. Das können Reime sein, feine Wortspiele, die mit Assoziationen arbeiten. Ich gebärde. In der Gebärdensprache, die ich jeden Tag benutze und in der ich Gedichte schreibe, ist der Reim der Rhythmus des Blinzelns, die Form der Hand, die Nutzung des Raums. Diese Möglichkeiten sind wirklich vielfältig,“ erklärt er.
Professor Magdalena Zdrodowska von der Jagiellonen-Universität wiederum führte die Konferenzteilnehmer in die Welt des Gehörlosenkinos ein. Die erste Vorführung dieses Kinos fand 1901–1902 statt, als die amerikanische Hymne vor dem Hintergrund der amerikanischen Flagge gezeigt wurde. Der eigentliche Anfang war jedoch das visionäre Projekt der American Deaf Association, bei dem gehörlose Künstler vor die Kamera traten. Das Polnische Gehörlosenkino war mit dem Polnischen Gehörlosenverband und dessen wichtigstem Zentrum in Stettin verbunden, wo von 1996 bis 2006 jährlich ein zweiwöchiger Filmworkshop mit Kamerahandhabung und Drehbuchschreiben stattfand.
Michal Justycki vom Schlesischen Museum, Mitbegründer der Deaf Artists’ Group, sprach über das Wörterbuch der Kunst in Gebärdensprachen. Zusammen mit Dagmara Stanosz ist er auch der Schöpfer der größten europäischen Ausstellung über Gehörlosigkeit im Schlesischen Museum in Kattowitz, in der es um Barrierefreiheit, Kommunikation und Kultur geht.
Hören ist wie das Zusammensetzen eines Puzzles
Eine hörgeschädigte Person hört anders, auch wenn sie ein Hörgerät trägt oder ein Implantat hat. Ihr Gehör kann mit dem Zusammensetzen eines Puzzles verglichen werden. Manchmal werden nicht alle Teile eines Satzes erfasst, daher ist es wichtig, dass wir unserem Gesprächspartner die bestmöglichen Bedingungen bieten. Unser Gesicht darf nicht im Schatten liegen, unsere Lippen müssen deutlich sichtbar sein, wir müssen langsam und sehr deutlich sprechen. Auch die Körpersprache ist wichtig. Wer sich mit Gebärdensprache verständigt, darf dies nicht mit steinerner Miene tun, sondern die Mimik muss Gefühle wiederspiegeln.
Das Wichtigste ist jedoch das Interesse der Person an ihrem Gesprächspartner. Ich habe mit Bewunderung die Arbeit von zwei Assistenten des taubblinden Grzegorz Kozłowski, des Präsidenten des Polnischen Verbandes für Hörgeschädigte, beobachtet. Sie kommunizieren mit ihm mithilfe des Lorm-Alphabets – bei dem jedem Buchstaben ein entsprechender Punkt auf der Handfläche zugeordnet ist –, obwohl er seit seinem Cochlea-Implantat in der Lage ist, klare Sprache zu empfangen. Er und seine Kollegen waren die ersten, die ein Projekt für Live-Untertitelung für Hörgeschädigte ins Leben riefen (d.h. in Polen – Anm. des Übersetzers). Die Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer allgemeinen Zugänglichkeit für Menschen mit Hör- und Sehbehinderungen ist eine Priorität. Der Referent stellte zusammen mit seiner Assistentin Anna Nawrot Hilfsmittel und Verständnis für Schwerhörige vor.
Gehörlose in der Kirche
Der erste gehörlose Geistliche in der römisch-katholischen Kirche wurde im vergangenen Jahr Pater Pawel Kasprzak, der von Geburt an gehörlos ist und sowohl die Lautsprache (Er gründete während seines Studiums die Organisation Deaf Speaking) als auch die Gebärdensprache verwendet, indem er die Sprache von den Lippen abliest. Er studierte zwei Fächer – Theologie und Sonderpädagogik. Innerhalb eines Jahres schrieb und verteidigte er zwei Magisterarbeiten. Seine Priesterweihe fand in der Kathedrale von Katowice statt, die eine sehr schlechte Akustik aufweist. Allerdings war ein Gebärdensprachdolmetscher anwesend, und die Kathedrale war mit einer Induktionsschleife und Live-Untertitelung ausgestattet. Die Beichte in einem Beichtstuhl ist für ihn unmöglich, also beichtet er im Gemeindehaus. Die Anfänge waren jedoch schwierig – es war nicht vorgesehen, dass er als Gehörloser Priester werden würde.
Natürlich ist eine gute Akustik wichtig. Dann gibt es noch die Induktionsschleifen (Hörhilfen) – wie viele unserer Kirchen und Gemeindehäuser haben solche? – obwohl, wie zum Beispiel Rollstuhlrampen, Schleifen eine Voraussetzung sein sollten. Wir können nicht über Inklusion sprechen, über die Beseitigung von Barrieren zwischen den Welten der Hörenden und der Hörgeschädigten ohne diese so leicht verfügbaren und notwendigen Hilfsmittel.
Zu den Begleitveranstaltungen gehörten ein Auftritt der Trommler der Sonderschule und des Bildungszentrums für Gehörlose und Schwerhörige in Racibórz, eine Ausstellung von Kinderkunstwerken und eine Ausstellung von Grafiken und Fotos verschiedener Autoren.
Den Abschluss der Konferenz bildeten ein Konzert mit Filmmusik, das vom Stillen Chor der Schlesischen Universität aufgeführt wurde, und ein Klavierabend mit dem Titel „I Hear the Light of the Moon“ von Grzegorz Płonka. Bis zu seinem 14. Lebensjahr wurde der Pianist als geistig behindertes Kind behandelt, das im Verdacht stand, an tiefgreifendem Autismus zu leiden. Die Wahrheit war anders. Nach einer zerebralen Kinderlähmung hatte er Hörprobleme. Seine Lebensgeschichte war die Grundlage für den Film Sonata, der den Kampf seiner Adoptivmutter um seine Gesundheit und die Entdeckung seines immensen musikalischen Talents zeigt (seine leibliche Mutter war Pianistin). Er sagt von sich selbst, dass seine erste Sprache die Musik war. Er kann nach einem Cochlea-Implantat hören, wobei die Sprache schlechter ist.
Als er zu hören begann, brachte er sich selbst bei, einen Teil von Beethovens Mondscheinsonate zu spielen – der ebenfalls schwerhörig war –, was ihm den Besuch einer Musikschule ermöglichte und seine Auftritte beflügelte. Seit er 2015 Gewinner des 1. Internationalen Musikfestivals für hörgeschädigte Kinder, Jugendliche und Erwachsene „Schneckenrhythmen“ war, wird er der „Beethoven von Murzasichl“ und der „Nikifor des Klaviers“ genannt.
Die Nichthörende und Schwerhörige sind unter uns. In ihrer Familie, in ihrem sozialen Umfeld fragen sie sich oft: Wer bin ich? Was ist meine Identität? Wo gehöre ich hin? Das Problem der Selbstidentifizierung und Identität wurde von der Journalistin Dominika Kopanska hervorgehoben, die sagte: „Für die Gehörlosen bin ich zu hörend und für die Hörenden bin ich zu taub.“
Die Gefahr eines Hörverlustes oder einer Hörverschlechterung betrifft uns alle. Vielleicht lohnt es sich also, sich mit dem Problem vertraut zu machen; vielleicht lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie ich helfen kann? Wie kann ich meinen Teil dazu beitragen, die Welt der Stille mit der Welt des Klangs zu verbinden?